Ehrenfried Wohlfarth
Gedanken zu Kehlmanns Buch „Tyll“
Ich habe das von Daniel Kehlmann 2017 erschienene Buch gerade zum zweiten Mal gelesen und stelle die erschreckende Aktualität auch in Bezug auf den Krieg in der Ukraine fest bis hin zur Instrumentalisierung von Religion durch Putin.
Das Buch ist detailkundig, spannend erzählt und unterhaltsam.
Daniel Kehlmann erfindet Tyll Ulenspiegel - Vagant, Schausteller und Provokateur- neu-. Er hat einen Roman geschrieben über die Macht der Kunst und die Verwüstungen des Krieges, über eine aus den Fugen geratene Welt.
Autor Kehlmann: “ … die Aufklärung ist im Augenblick, als politische Macht zumindest, sehr im Rückzug begriffen, und die Religionskriege – etwas, von dem wir wirklich dachten, dass es überwunden ist -, das sieht im Moment weniger überwunden aus denn je.“
Ich möchte nicht ausschweifen und zu dem Buch folgende Ausführungen machen.
1. Historischer Zusammenhang und Gegenwart
2. Erklärung des Verhaltens von Tyll
Kehlmanns Roman beschreibt die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, einer Zeit, in der Söldner im Auftrag der Kriegsparteien und der Religion das Land verwüsten, marodieren und morden. Die Inquisition foltert und mordet, die Pest dezimiert ganze Landstriche. Dieser Krieg hat Deutschland bis heute mitgeprägt. Die Kleinstaaterei sowie die konfessionelle Aufteilung Deutschlands hat sich nach Ende des Krieges verfestigt. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bestand nur noch bis 1806 auf dem Papier. Erst 1871 wurde Deutschland ein föderaler Nationalstaat. Während Frankreich, England und Spanien die Welt bereits untereinander aufgeteilt hatten, will auch das deutsche Kaiserreich aufholen und expandieren. 1. Weltkrieg, Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg sowie die Spaltung und Wiedervereinigung Deutschlands erklären sich aus der bisherigen deutschen Geschichte seit dem dreißigjährigen Krieg.
Tyll wird von Kehlmann in diese schlimme Zeit des Dreißigjährigen Krieges versetzt, erscheint in allen Handlungsebenen als kluger Beobachter, Narr und Spötter, der den handelnden Personen einen Spiegel vorhält. Tylls Auftreten als Erwachsener erklärt sich aus seinen schlimmen Erfahrungen und Erlebnissen seiner Kindheit und Jugend. Sein Verhalten dient ihm als Schutzpanzer gegen die grausamen Unbilden seiner Zeit. Die tiefsitzenden seelischen Verletzungen, die Tyll durch die erlebten Grausamkeiten zugefügt wurden, hat er in seiner Rolle als Narr sowie Verächter des Zeitgeistes, der Dummheit, der Machtgier und des religiösen Fanatismus kompensiert.
Schon im berühmten Volksbuch von 1515 kaspert sich der Narr der Narren als anarchistischer Spaß-Guerillero durch die Welt, indem er seinen Schabernack vorwiegend auf Kosten anderer treibt. Daniel Kehlmann weiß um den ambivalenten Charakter des Narren-Archetyps, den Eulenspiegel – oder Ulenspiegel – beispielhaft verkörpert. Einerseits kann man durchaus seinen Spaß mit dem Burschen haben, andererseits ist er auch ganz schön bösartig. Im Prozess der Zivilisation– so Kehlmann – verkörpert Eulenspiegel das Widerständige, das Regelwidrige, das Unangepasst-Anarchische.
Kehlmann sagt:
„Mein Eulenspiegel ist ein bisschen anders, er ist nicht bösartig, aber diese Dimension, dass er
etwas Rätselhaftes hat, etwas Gefährliches, etwas, das nicht in die Gesellschaft passt, das wollte ich unbedingt erhalten.
Die Welt hat sich, während ich an diesem Buch gearbeitet habe, verändert…: Syrien zerfällt nach wie vor, wir haben irrationale Kräfte, die überall nach der Macht greifen, die Aufklärung ist im
Augenblick, als politische Macht zumindest, sehr im Rückzug begriffen, und die Religionskriege – etwas, von dem wir wirklich dachten, dass es überwunden ist -, das sieht im Moment weniger
überwunden aus denn je. Ich würde sagen, der Roman ist heute gegenwärtiger als er es vor vier Jahren gewesen wäre, als ich das erste Kapitel geschrieben habe. Und ich sage das nicht erfreut, ich
wünschte, es wäre anders. Das, was für die Welt heute Syrien ist, war damals Mittel- und Nordeuropa – eine Region der zusammengebrochenen Ordnung. Aber Tyll bleibt ungebeugt. Und nichts kann ihm
wirklich etwas anhaben. Es gibt eine Widerstandskraft, die gar nicht so sehr in dem liegt, was er tut oder unternimmt, sondern in dem, was er ist."
Zitat aus dem Ende des Buches: „Willst mir Gnadenbrot geben, kleine Liz….“
So schlecht ist das nicht“
„Aber weißt du, was besser ist? Noch besser als friedlich sterben?“
„Sag es mir“
„Nicht sterben, kleine Liz. Das ist viel besser“.
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Uwe Lehnert (Dienstag, 24 Mai 2022 21:18)
Ein politischer Beitrag mag den Verstand ansprechen und – vielleicht – zu tätigem Handeln anregen. In einem Roman identifiziert man sich viel leichter mit einer Person, lebt, leidet, denkt mit ihr. Insofern regt ein Roman nicht nur den Intellekt an, er kann Emotionen auslösen, die letztlich – viel entscheidender noch – Handeln bewirken. Schon die bloße Rezension von Ehrenfried regt an, über die eigenen Möglichkeiten zu reflektieren, was Not tut und was man selbst tun kann und sollte. Es gilt letztlich ein Gesellschaftssystem zu erhalten, das dank Aufklärung und prinzipieller Vorherrschaft der Vernunft, Krieg geächtet, Religionen zurückgedrängt hat sowie wissenschaftliches und vernunftbegründendes Denken und Handeln bevorzugt.
HH (Mittwoch, 25 Mai 2022 12:47)
Vor allem der letzte Satz von Uwe ist im Grunde ein eigentlich notwendiger Schlüsselcode. Aber es sollte nicht unterschätzt werden, wie jeder Mensch Gelerntes, Erlebtes, Gelesenes oder medial Übermitteltes zuerst in sein auf dieser Grundlage begrenzt geprägtes Weltbild einpassen möchte. Hierbei geht es unter Anderem um die Minimierung von kognitiven Dissonanzen, die in der geistigen Verarbeitung hohen Energieaufwand bedeuten. Somit werden aus im Grunde gleichen Sachverhalten letztlich oft völlig verschiedene Schlussfolgerungen gezogen und diametrale Bewertungen daraus generiert. Von der Schwierigkeit der Betrachtung und Einordnung vorheriger Korrelationen und Kausalketten im Rahmen einer persönlichen "Wahrheitsfindung" sowie der Praxis im anschließendem Handeln ganz abgesehen. Um es deutlich zu sagen, niemand (!) ist davor gefeit, beschränkt zu denken und zu handeln. Auch nach der Lektüre der besten Bücher nicht. Diese können Horizonte erweitern, müssen dies aber nicht zwingend tun. Letztlich ist auch die profane Lebensweisheit eines Egon Bahr beachtlich, als dieser, angesprochen auf die Maxime in der Politik, sagte: "Interessen, Interessen, Interessen, alles and're kann'st vergessen". Und somit ist es fast schon ein "Muss" in jeglicher Machtpolitik, auch Religionen zum Zwecke des "gegenseitigen" Vorteils zu vereinnahmen. Dies ist im Übrigen keine Erfindung von Putin (siehe Ehrenfried) und wird mit der weiteren Aufspaltung und Abgrenzung der Orthodoxie in eine mit stark nationalistischen Elementen gespickte Ausprägung in der Ukraine dort auch seit Jahren bereits betrieben und durchgesetzt. Und nun mal ran an Kehlmann..... .
Ehrenfried (Donnerstag, 26 Mai 2022 13:06)
Religion ist in der ukrainischen Bevölkerung noch präsenter als in der russischen. Die Religionsaffinität nahm nach dem Zerfall der Sowjetunion in beiden Ländern schlagartig zu, Ideologieersatz.